Wider besserem Wissen?
Samstag, 18. April 2020
Covid-19 S1 • E4
Escheburg
Gegenüberstellung der effektiven und geografischen Entfernung am Beispiel einer simulierten Pandemie mit Ausgangsort Hong Kong.
Quelle: https://www.rki.de/DE/Content/Forsch/Projektgruppen/Projektgruppe_4/Erlaeuterung_Science_Paper.html
Quelle: https://www.rki.de/DE/Content/Forsch/Projektgruppen/Projektgruppe_4/Erlaeuterung_Science_Paper.html
Lesedauer: 4 Minuten
In einem meiner letzten Posts mit dem Titel Luftfahrt als Treiber? hatte ich abschließend vorwurfsfrei die Frage im Raum stehen lassen, ob der Faktor Luftfahrt nicht in Bezug auf die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie hätte bekannt sein müssen, um somit frühzeitig auf dieses förmliche Einschleppen des Erregers zu reagieren?Für mein Empfinden ist seitens der meisten Regierungen weltweit erst spät und in Einzelfällen wie den USA sogar zu spät mit Restriktionen und Regeln im Zusammenhang mit dem Flugverkehr reagiert worden.
Für mich ist solch eine Aussage aber leicht zu treffen, sitze ich doch quasi nur am Stammtisch und nicht am Regierungstisch! Deshalb möchte ich diese Aussage auch nicht als Kritik an den in unserem Land aktuell politisch handelnden Personen verstanden wissen! Diese Personen haben ungeachtet meiner politischen Ausrichtung meinen höchsten Respekt für die getroffenen Entscheidungen.
Dennoch glaube ich, dass meine Stammtisch-Aussage und damit auch meine provokante Frage aus dem Titel dieses Posts absolut ihre Berechtigung haben! Warum?
Im Jahre 2007 wurde eine von der EU und den USA in Auftrag gegebene Studie veröffentlicht. Diese trägt den Namen Modelling the Worldwide Spread of Pandemic Influenza: Baseline Case and Containment Intervention.
Für diese Studie entwickelten europäische Wissenschaftler ein Modell, mit dem sich die weltweite Ausbreitung einer möglichen Grippepandemie über den Flugverkehr prognostizieren lässt. Dieses Modell stellte damals die weltweit umfangreichste Simulation einer Epidemie in dieser Form dar und basierte auf Passagierflugdaten der internationalen Flug-Transport-Vereinigung sowie auf Erhebungen in mehr als 300 Ballungszentren und 220 Ländern.
Simuliert wurde damals beispielsweise ein Szenario, in dem in Hà Nội (Việt Nam) ein Grippevirus mit einer Reproduktionszahl von 1,1 entsteht. Reproduktonszahl bedeutet in diesem Zusammenhang wie viele weitere direkte Infektionen im Schnitt von einer bereits infizierten Person ausgelöst werden. Das Ergebnis dieses Szenarios war wenig erschreckend, stellte dieses Virus nur eine geringe weltweite Gefahr dar.
Erhöht man die Reproduktionszahl aber nur um 0,4 auf 1,5 könnten gemäß der Simulation bereits 50 Prozent der Bevölkerung in über 100 Ländern infiziert werden und eine Intervention der Regierungen wären nötig.
Letztlich zogen die Forscher in dieser Studie den Schluss, dass strenge Reisebeschränkungen eine weltweite Ausbreitung nur bedingt verhindern würde und das der Einsatz antiviraler Medikamente im Zuge einer weltweiten kooperativen Strategie eine Pandemie deutlich verzögern und die Auswirkungen allgemein mildern würde.
Jetzt ist die Studie aber anhand einer vielleicht eher als klein zu bezeichnenden Reproduktionszahl durchgeführt worden? In Deutschland jedenfalls betrug die vom RKI mit einem 95% Konfidenzintervall geschätzte und veröffentlichte Netto-Reproduktionszahl vor Inkrafttreten der Kontaktsperre fast 7 und ich möchte mir diese Zahl angesichts der Bilder aus den USA erst gar nicht für die USA vorstellen! Mittlerweile bewegt sich die geschätzte Reproduktionszahl eher im Bereich des Szenarios oder sogar teilweise unterhalb der so wichtigen Zahl 1.
Wahrscheinlichkeit und Ausmaß der angenommenen Pandemie durch Virus „Modi-SARS“.
Quelle: https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
Vielleicht bin ich jetzt der Einzige, der sich verwundert die Augen reibt, aber steht das Studienergebnis nicht im Widerspruch zu den aktuell gerade in Asien gemachten Erfahrungen?Quelle: https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
Im Jahre 2013 veröffentlichten Wissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), des Robert Koch-Institut (RKI) und der ETH Zürich im Wissenschaftsmagazin Science unter dem Titel The hidden geometry of complex, network-driven contagion phenomena einen mathematischen Ansatz, der hilft den Ausgangsort von Krankheiten genauer zu bestimmen. Ferner ermöglicht der Ansatz zu berechnen, wann eine Epidemie einen beliebigen Ort der Welt erreicht haben wird.
Dem Ansatz liegt ein Umdenken zugrunde. Demnach sind geographische Entfernungen nicht mehr maßgeblich, sondern eher die effektiven Entfernungen. Das möchte ich mal an einem Beispiel verdeutlichen.
Man nehme beispielsweise Frankfurt, das mit seinem Flughafen schnelle Anbindung an Metropolen wie London oder New York bietet. Jetzt hat Frankfurt aber keine Flugverbindung nach Bremen oder Leipzig. Man muss beispielsweise mit der Bahn reisen, was wesentlich länger dauert. Vergleicht man nun die Zeit, um von Frankfurt zu einer der genannten Metropolen zu kommen, dann dauert das effektiv in etwa so lange, wie eine Reise in die geographisch nahen und genannten Orte.
In diesem Ansatz spielt aber auch die Größe des Reisestromes eine Rolle. Reisen auf einer Strecke viele Menschen, ist die effektive Entfernung klein. Reisen nur wenige ist sie eher hoch.
Und so kann man diesen Ansatz nutzen, um basierend auf aktuellen Flugdaten eine hervorragende Karten mit viel Aussagekraft zu erzeugen. Die Humboldt-Universität Berlin bietet dazu ein interessantes Tool im Internet an, das auf Datenbasis des 2014 stattgefundenen Ebola-Ausbruchs basiert.
Das Tool ist Bestandteil des I2RA – Interactive-Rapid-Risk-Assesments und zeichnet eine interaktive Karte mit einer Baumstruktur zur Ausbreitung mit Zusatzinformationen, sowie ein interaktives Chart zum Relative Import Risk (ReIP). Schaut da doch mal rein und spielt ein wenige mit den Ausbruchsorten sowie den Ausbruchsorten bei gleichzeitiger Außerbetriebnahme wichtiger Flughäfen herum.
Im Jahre 2012 entwarfen Behörden und Forscher eine damals als bedingt wahrscheinlich eingeschätztes Coronavirus-Szenario, das statistisch ein Mal in 100 bis 1000 Jahren eintritt und heute wie eine düstere Prognose wirkt. Dabei springt das Coronavirus auf einem südostasiatischen Markt von Wildtieren auf den Menschen über und verbreitet sich anschließend weltweit. Nach Deutschland wird es von zehn Reiseheimkehrern eingeschleppt, wovon zwei nach Heimkehr durchaus auch auf Massenveranstaltungen unterwegs sind.
Erkranktenanteil an der Gesamtbevölkerung über 1080 Tage im Fall einer Pandemie durch Virus „Modi-SARS“.
Quelle: https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
Das Arbeitsergebnis aus diesem Coronavirus-Szenario möchte ich hier nicht zusammenfassen. Aber lest doch selbst den Abschnitt 2.3 sowie den Anhang zur Pandemie durch Virus „Modi-SARS“ im Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012.Quelle: https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
Aktuell sind wir doch alle irgendwie nicht mehr der Bundestrainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, sondern eher Virologen und Krisenmanager auf Regierungsebene. Auf den Zug will ich auch gar nicht mit aufspringen und deshalb werde ich auf die provokante Eingangsfrage auch keine Antwort liefern.
Bei mir entsteht gerade nach dem Lesen des Berichts zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 aber schon der Eindruck, dass Dinge hätten besser laufen können. Und das formuliere ich absichtlich so, denn offensichtlich ist gemäß Anhang zur Pandemie durch Virus „Modi-SARS“ verdammt viel bisher gut gelaufen, gleichen die im Anhang geschilderten Auswirkungen doch eher denen in Italien, Spanien, Frankreich und den USA...
Also viel Spaß beim staunenden Lesen des Berichts, haltet möglichst körperlichen Abstand und bleibt Gesund!
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