Formell vs. Informell
Samstag, 16. März 2019
Kino S1 • E9
Lüneburg
Lesedauer: 4 Minuten
Habt ihr schon mal einen Film mit Überlänge geschaut, der so schnell vorbei war, dass ihr über das Erscheinen des Abspanns überrascht ward? Und habt ihr schon mal einen Protagonisten erlebt, der einerseits absolut kaltschnäuzig und berechnend agiert, dann aber doch plötzlich eine so krasse menschliche Seite zeigt, dass man sich kneifen muss, um wahrzunehmen, dass man das gerade nicht geträumt hat?Ich hatte ja angekündigt, in den kommenden Wochen einen weiteren der bei den Academy Awards ausgezeichneten Filme anschauen zu wollen. Zum Glück musste ich Biene nicht lange bequatschen. Biene hatte irgendwie das Bedürfnis, mich zu überraschen und lud mich daher für gestern Abend ins Kino ein. Alles andere sollte ein Geheimnis bleiben, eine Überraschung eben.
So holte sie mich gestern Abend ab und wir machten uns auf den Weg nach Lüneburg, um den Oscar-prämierten Film Vice – Der zweite Mann zu schauen. Natürlich ging es dazu mal wieder ins Scala und es gab noch eine weitere Überraschung, wir saßen mal nicht alleine im Kinosaal! Woohooo!!
Der Film zeigt in gewisser Art und Weise autobiographisch den Aufstieg von Richard Bruce Cheney, den ihr alle wohl eher unter seinem Rufnamen Dick Cheney kennt. Und Aufstieg ist da absolut passend, denn obwohl er die Chance hat, in Yale und damit an einer Eliteuniversität zu studieren, landet er eher bei der schulabschlusslosen arbeitenden Bevölkerung. Er fällt immer wieder negativ auf. Aber wie ist er dann letztlich bis zum Vizepräsidenten der USA aufgestiegen?
Als ihn seine spätere Frau das dritte Mal wegen einer Trunkenheitsfahrt aus dem Knast holt, setzt sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes auf den Topf! Sie bezeichnet ihn als eine große, fette, Pisse-getränkte Null und wenn er sein Leben nicht sofort umkrempeln würde, wäre sie weg. Er gelobt Besserung, an die man selbst als Zuschauer nicht so recht zu glauben mag.
Aber er ändert sich unter dem Druck seiner Frau, die zwar extrem intelligent und gebildet aber trotzdem in den USA der 60er und 70er Jahre einfach chancenlos ist. Sie braucht ihren Mann als Türöffner für die höheren gesellschaftlichen Schichten und instruiert ihren Mann förmlich innerhalb seiner charakterlichen Verwandlung.
Schon wenige Jahre später kommt Dick dann in den Genuss eines Förderprogramms und wird zur Assistenz vom damals schon politisch bedeutenden Donald Rumsfeld. Da wird jetzt dem einen oder anderen die Glocke im Kopf klingeln. Moment, der war doch später auch im Kabinett von George W. Bush? Genau und man ahnt es schon. Ab hier nimmt seine Karriere fahrt auf und er wird Teil einer treuen und einander bedingungslos loyalen Gruppe republikanischer Politiker.
Mehr will ich über die Story gar nicht teasern, denn ihr wisst ja eh alle, wie es letztlich endete.
Der Film an sich ist für politisch interessierte und Beobachter der Jahre der Bush-Legislatur absolut empfehlenswert und das ohne wenn und aber. Selbst für diejenigen, die nur einen gut inszenierten Film schauen wollen, ist dieser Film sicherlich unterhaltsam und erhält daher von mir eine Kinogangempfehlung!
Ein abseits der Story für mich absolut faszinierender Punkt an diesem Film stellt die unglaubliche, täuschend echte wirkende Verwandlung Christian Bales in Dick Cheney dar. Auch die anderen Figuren kommen den Originalen extrem nah, wie man auf dem Kinoplakat gut sehen kann. Bei den anderen Figuren konnte ich aber auf den ersten Blick erkennen, welcher Schauspieler da unter der Maske steckt. Nicht so bei der Hauptrolle. Wahnsinn! Nicht ohne Grund wurde dieser Film mit dem Oscar in der Kategorie Bestes Make-up und Frisuren ausgezeichnet.
Aber auch die Besetzung des Films ist irgendwie passend. Schon bevor ich den Film gesehen hatte, war mir bei der Besetzung der Figur George W. Bushs durch Sam Rockwell klar, dass Bush nicht sonderlich gut wegkommen wird. Rockwell spielt ja irgendwie immer den widerwärtigen ungebildeten Asi. So zuletzt z.B. in Three Billboards Outside Ebbing, Missouri. Nun ja, kurz gesagt: Für die Darstellung Bushs in diesem Film eine perfekte Besetzung.
Es gibt für mich aber auch eine negative Seite dieser unglaublich echt wirkenden Verwandlung von Christian Bale. So hatte ich Christian Bale auf der Berlinale gesehen, wo dieser sehr sportliche Typ auf mich sehr viel dünner als gewöhnlich wirkte. Nach dem ich nun gestern den Film gesehen hatte, interessierte mich natürlich, wie die Filmcrew diesen sportlichen Typen in einen fetten Lebemann verwandelt hatten?
Erinnerungen an die Kontroverse Matthew McConaugheys im Zusammenhang mit seinem körperlich Zustand im Film Dallas Buyers Club wurden in mir wach. McConaughey hatte sich damals innerhalb kürzester Zeit für den Film Magic Mike, in dem er einen Stripper spielte, zunächst extreme Muskelpakete antrainiert, um dann nur wenige Monate später völlig abgemagert einen AIDS-Kranken zu spielen. Ich kann mich da nur angewidert am Kopf kratzen!
Nichts desto trotz, ein absolut sehenswerter und teilweise sogar überraschend lustiger Film, der dem Zuschauer sehr deutlich vermittelt, wie planvoll, kalt kalkulierend und still strategisch dieser absolute Familienmensch selbst drei Herzinfarkte inkl. Herztransplantation überlebt und sich an der Seite Bushs trotz Vizestellung zum eigentlich einflussreichsten und entscheidenden Mann in den USA entwickelt. Informelle Führer haben halt immer mehr Macht und Einfluss, als die formellen Führer wahrhaben wollen!
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Ich bin ein liebevoller Vater, Candourist, Stoiker, Agilist, Product Owner, Hauptmann der Reserve, Diplom-Kaufmann und ausgebilderter Verkehrspilot (ATPL-Credit).
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