Das mit den grünen Orangen
Mittwoch, 02. September 2020
Việt Nam S7 • E9
Hồ-Chí-Minh-City
Lesedauer: 4 Minuten
In meinem heutigen Post soll es mal um Borniertheit und damit um eine – meiner Meinung nach – bei uns in den Industrieländern weit verbreitete Verhaltensweise gehen. Jetzt kratz sich der eine oder andere von euch vielleicht am Kopf und denkt, was nun wohl wieder kommt und wer ganz ehrlich ist, der fragt sich vielleicht sogar, was das überhaupt heißt? Kümmern wir uns doch erst einmal um das Wort Borniertheit und das ganz allgemein. Also, was heißt das eigentlich?Nun, der Duden beschreibt das Wort borniert wie folgt: engstirnig und zugleich in ärgerlicher Weise eingebildet und auf seinen Vorstellungen beharrend. Das heißt, Borniertheit liegt vor, wenn jemand engstirnig und im Empfinden anderer in ärgerlicher Weise eingebildet auftritt und auf seinen Vorstellungen beharrt.
Ich durfte diese Eigenschaft nun leider schon das zweite Mal in leichter Form bei mir feststellen und wenn ich ehrlich bin, übertreibe ich hier vielleicht auch ein bisschen, um eine lustige Situation mit Aha-Effekt in einem eigentlich recht ernsten Thema unterzubringen. Aber zunächst einmal zur lustigen Situation mit Aha-Effekt...
Während ich das letzte Mal auf Dienstreise in Việt Nam weilte, gingen meine Kollegen und ich mittags mal wieder zum Mittagessen in unsere Lieblingslocation, das G-Coffee. Spätestens auf dem Rückweg vom G-Coffee ins Büro im Vincom Center kommen wir dann immer an einer mobilen Straßenbar vorbei, in der eine Anwohnerin Saigons unterschiedliche Fruchtsäfte verkauft.
Diese Fruchtsäfte sind mit Masse frisch gepresst und so hat die Dame natürlich auch einiges an frischen Früchten in ihrer Auslage. Beim Vorbeilaufen ist mir dabei immer eine grüne Zitrusfrucht aufgefallen, aus der ebenfalls ein Saft gepresst wurde.
Ich hatte in der Vergangenheit immer nur gesehen, wie daraus Saft gepresst wurde. Ich hatte aber nie jemanden diese Frucht essen sehen, so wie wir beispielsweise eine Mandarine essen würden. Und weil ich mir am folgenden Wochenende vielleicht mal zwei bis drei Exemplare dieser Frucht zum Verzehr kaufen wollte, nutzte ich den Moment und sprach einen meiner Kollegen einfach mal auf die Frucht an. Ich fragte also mit dem Zeigefinger darauf zeigend Was ist denn das für eine Frucht? Wie heißt die?
Er antwortete Orange und weil ich mein Herz auf der Zunge trage antwortete ich spontan Orange?! Aber die sind doch noch ganz grün und unreif?! Wie kann man die für Saft benutzen?. Er guckte mich mich mit großen Augen aber auch grinsend an und sagte dann ganz ruhig Wieso unreif? Die sind doch reif und schmecken richtig gut.
Ich entgegnete Reif? Reife Orangen sind orange und nicht grün! Und jetzt folgte ein Satz, den ich mir im wahrsten Sinne des Wortes erst auf der Zunge zergehen lassen und mental zurechtlegen musste. Er sagte Ach darum heißt die Farbe Orange so.
Ich raffte das gerade Gesagte gar nicht in seiner Vollkommenheit und entgegnete Klar! Aber habt ihr hier keine orangenen Orangen? Er antwortete Nein, bei uns sind die immer grün. Hmmm, komisch...
Erst als ich den Tag abends bei einem kühlen Getränk und chilliger House-Mucke in meiner favorisierten Rooftop-Bar Revue passieren ließ, ging mir dieser Satz noch mal durch den Kopf und entfaltete dort seine volle Aussage. Ich gebe offen und ehrlich zu, dass dieser Satz kurzfristig ein Schmunzeln in meinem Gesicht hervorrief. Hat er wirklich gesagt Ach darum heißt die Farbe Orange so.?
Aus einer vor ein paar Wochen erst gemachten Erfahrung heraus – auf die ich gleich noch zu sprechen komme – hinterfragte sich der arrogante Bürger einer Industrie-Nation in mir nun aber. Ich stellte mir die Frage, ob es nun normal ist, dass Orangen grün oder orange sind und vor allem, warum Orangen hier grün sind?
Ich zog ein bisschen verärgert über mein mangelndes Wissen und meine vor ein paar Sekunden an den Tag gelegte Borniertheit mein Handy und siehe da, das örtliche Klima ist der Grund, warum die Orangen hier grün bleiben. Aber was genau? Klima ist so eine allgemeine Aussage.
Nun, in den Mittelmeer-Regionen, aus denen wir Europäer unsere orangenen Orangen vorrangig kennen, gibt es kühle Nächte. Diese sorgen dafür, dass das Chlorophyll in der Fruchtschale abgebaut wird und dadurch gelbe und orangene Farbstoff der Schale in den Vordergrund treten. Die Orange bekommt die uns bekannte und ihrer Farbe den Namen gebende Farbe.
Aber jetzt wird der eine oder andere sagen, dass er auch schon mal orange-farbige Orangen aus den Tropen im Supermarkt gesehen hat. Ja, stimmt! Jene Orangen sind mit Ethylen begast worden, was den gleichen Effekt wie kühle Nächte hervorruft und den Farbwechsel der Orangen herbeiführt und das alles nur, weil in unserer Kultur grünes Obst als unreif gilt.
Und die vermeintlich wichtigste Antwort noch schnell hinterher... Ja man kann die grünen Orangen super gut essen und sie schmecken mindestens so gut, wie unsere uns bekannten orangenen Orangen. Das war jetzt die „lustige“ Situation mit dem Aha-Effekt. Aber was ist jetzt das ernste Thema?
Tja, irgendwie tragen wir hier im sooo gebildeten Europa nun auch alle Mund-Nase-Masken, oder? Etwas, was in Asien und damit auch im Schwellenland Việt Nam schon bei Schnupfen zur guten Etikette gehört und viel mehr noch bewährte Praxis darstellt!
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich bei leichtem Schnupfen von einem vietnamesischen Kollegen im Büro unseres Dienstleisters gebeten wurde, mir aus der Pantry eine Mund-Nase-Maske zu holen und diese zu tragen. Das ist in Việt Nam völlig normal! Ich folgte der Aufforderung natürlich, das gebietet ja schon allein das Dasein als Gast in Việt Nam! Andere Länder andere Sitten. Gleichzeitig dachte ich aber auch Das bringt doch eh nichts!
Unsere Wissenschaftler sagen, dass das nichts bringt, also bringt das auch nichts! Wie borniert, oder? Damals ganz klar nein! Aber schon auf meiner letzten Việt Nam-Reise gestand ich meinen vietnamesischen Kollegen gegenüber, wie arrogant und idiotisch und das dann auch noch mit einer unglaublichen Selbstverständnis wir Industrieländler Erfahrungen von Schwellenländern mit einer unglaublichen Ignoranz und Selbstvertrauen in unsere Bildung bzw. Wissenschaft wegwischen.
Mittlerweile haben wir Europäer und vor allem die Amerikaner durch einen Millionen Menschen einbeziehenden, ungewollten Feldversuch namens SARS-Cov2-Pandemie schmerzhaft lernen müssen, dass Mund-Nase-Masken bei Infektionen über Tröpfchen oder Aerosole sehr wohl etwas bewirken können. Sie schützen vielleicht nicht zu 100%. Soweit haben unsere Wissenschaftler weiterhin Recht. Aber sie verringern die Verbreitung merklich! Ach nein? Wirklich?!
Ich jedenfalls trage fein weiter meine Maske und halte mich an die Vorgaben unserer Regierung. Und ganz ehrlich, ich kann das Gejammere vieler meiner Mitbürger über das Tragen der Masken beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ich bekomme darunter nicht richtig Luft! stellt dabei meiner Wahrnehmung nach einen der häufigsten Jammersätze dar.
Das kenne ich nur zu gut aus meiner Bundeswehrzeit. Auch im Training meiner Jungs für den Kuwait-Einsatz im Zuge des letzten Golfkrieges jammerten meine Jungs darüber, wie anstrengend alles bei Nutzung der ABC-Schutzmasken ist. Nachdem sie aber in Kuwait unmittelbar nach der Landung von einem Scut-Alarm überrascht worden waren, der ja damals auch immer mit der realen Gefahr eines B- oder C-Waffenangriffs einherging, beklagte sich keiner meiner Jungs mehr.
Nutzen erkannt, Gejammer gebannt... Ich bin gespannt, wann die entsprechende Einsicht bzgl. der Mund-Nase-Masken – bzw. Alltagsmaske, wie sie jetzt so schön heißt – in unserer Kultur wirklich ankommt und das nicht als eine Art Bestrafung , sondern als gerne angenommene Schutz- bzw. Fürsorgemaßnahme verstanden wird. Dazu müssen wir aber wohl erst einmal die bei uns weit verbreitete Borniertheit überwinden...
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