Bewegend
Samstag, 04. April 2020
Việt Nam S7 • E1
Hồ-Chí-Minh-City
Herr Ngộ und der kleine Junge.
Lesedauer: 6 Minuten
Wie ihr vielleicht wisst, bin ich gerne auf Reisen und entdecke das Reiseland dabei möglichst auf eigene Faust, wenn denn das notwendige Geld dafür verfügbar ist.Schon vor mehr als 10 Jahren sah ich deshalb die eine oder andere Reisereportage über Việt Nam. Und wenn es in einer dieser Reportagen nach Hồ-Chí-Minh-City ging, dann wurde auch immer vom altehrwürdigen und aus der französischen Besatzungszeit stammenden Post Office (Bưu Điện Trung Tâm Thành Phố) berichtet.
Das hatte mehrere Gründe. Einerseits natürlich wegen seiner Kolonialarchitektur und unmittelbaren Nähe zur Kathedrale Notre Dame von Saigon (Nhà thờ Đức Bà Sài Gòn). Andererseits aber auch, weil dort der letzte noch lebende und aktive staatliche Briefeübersetzer seiner Tätigkeit nachgeht.
Bei diesem letzten aktiven staatlichen Briefeübersetzer handelt es sich um Dương Văn Ngộ. Er ist mit seinen nun 90 Lebensjahren eigentlich schon Jahrzehnte in Rente und dennoch fährt er fünf Tage die Woche – von Montag bis Freitag – morgens zu um 8:30 Uhr mit seinem Fahrrad die zehn Kilometer lange Strecke von seiner Wohnung zum altehrwürdigen Post Office.
Als ich vor nun fast zwei Jahren das erste Mal nach Việt Nam reiste, war er natürlich auch auf meiner Must-See-Liste. Solch eine Berühmtheit muss man doch mal begegnet sein und wenn es gut läuft, wechselt man vielleicht sogar ein paar Worte...
Wir schafften es während unserer 48 Stunden Aufenthalt in Hồ-Chí-Minh-City am ersten Tag erst nachmittags – so gegen 17:00 Uhr – ins Post Office und als ich nach ihm suchte, war er nicht da. Ich fragte daraufhin später unsere Betreuerin nach ihm und sie teilte mir mit, dass er schon gestorben sei. Das schockierte mich und machte mich nicht ob meines Wunsches ihn zu sehen, sondern ob seines Schicksals traurig.
Als wir nun am Anfang des Jahres zum jährlichen Summit unseres Dienstleisters reisten, buchte ein Kollege von mir auch die Stadtrundfahrt durch Hồ-Chí-Minh-City. Ich selber war eigentlich nicht mit dabei, dank Whatsapp und dem fleißigen Posten von Fotos und Kommentaren dort dann aber irgendwie doch...
Und plötzlich glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Das ist doch der letzte aktive staatliche Briefeübersetzer im Post Office. Freude überkam mich und ich versicherte mich, dass das gepostete Foto, das ihr als erstes Bild an diesem Post sehen könnt, aktuell ist. Und ja, es war aktuell. Er lebt noch! Wie schön.
Ich beschloss bei nächster Gelegenheit vor dem Arbeitsantritt mal bei ihm vorbeizuschauen. Das tat ich und siehe da, er saß, umringt von Touristen, auf seinem Stammplatz. All die Bücher, seine Lupe, all das was ich schon aus den Reportagen kannte... So als wäre es nie weggeräumt worden und als hätte er sich nicht verändert!
Er war sehr beschäftigt und mir rannte die Zeit davon. Ich beschloss es am nächsten Morgen abermals zu versuchen. Und siehe da, nur eine ganz kleine Touristengruppe und ich direkt danach.
Herr Ngộ beim Schreiben der Postkarte für meine Eltern.
Ich setzte mich voller Respekt und Ehrfurcht zu ihm und begrüßte ihn so respektvoll, wie ich es nur zustande bekam. Er schien sich darüber zu freuen, dass mal jemand auch mit ihm spricht. Er erzählte, dass er 1946 als 16-Jähriger bei der Post angefangen hätte. Aber noch nicht als Briefeschreiber oder Übersetzer! Das kam erst später und auch nur, weil er schon im Alter von sieben Jahren auf Drängen seiner Eltern Französisch gelernt hatte.Auch später half ihm nach eigener Aussage der Rat seiner Eltern, bis heute noch wertvolle Dienste leisten zu können. Denn im Alter von 36 Jahren rieten sie ihm nun Englisch zu lernen. Und wie wir alle wissen, war Englisch nur wenige Jahre später die wahrscheinlich nachgefragteste Sprache bzgl. Übersetzungen.
Auf meine Frage hin, ob er nicht schon mal an das Aufhören gedacht hätte sagte er nur Nein, ich werde so lange Briefe schreiben wie ich kann. Ist doch auch viel schöner, als zu Hause rumzuhängen.
Ich erzählte ihm auch von meinem spätnachmittäglichen Versuch, ihm schon vor fast eineinhalb Jahren einen Besuch abzustatten und das er leider nicht mehr da war. Er lachte und sagte Junger Mann, in meinem Alter muss man seine Kräfte einteilen und ich muss ja auch noch zehn Kilometer mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Ich fange morgens gegen 8:30 Uhr an, mache um 12:00 Uhr meine Mittagspause und gegen 15:30 Uhr fahre ich wieder zurück zu meiner Familie. Ich bin Opa und habe viele viele Enkel.
Ich zeigte ihm auch das Foto, dass mich letztlich wieder zu ihm geführt hatte und fragte, was er im Angesicht dieses kleinen Jungen gedacht habe und er sagte So jung, so unbekümmert und noch so viel vor sich.
Im Anschluss an unser Gespräch bat ich ihn um eine Postkarte, die ich an meine Eltern schicken wolle und ob er etwas darauf schreiben könne. Er hielt mir seine Auswahl an Postkarten hin und ich wählte eine mit dem Post Office als Abbildung. Dann hielt ich ihm mein Handy hin und fragte freundlich, ob er mir diesen englischen Text in Französisch übersetzen könne?
Er sagte mit einem charmanten Lächeln im Gesicht Kann ich, passt aber nicht drauf! und fing an seinen englischsprachigen Standardtext auf die Postkarte zu schreiben. Und er hat trotz seines hohen Alters immer noch eine sehr ruhige Hand und wunderschöne Handschrift!
Ich fragte, was diese Postkarte nun Kosten würde. Er sagte So viel, wie sie Ihnen wert ist! Ich hatte im Vorwege schon mal gelesen, dass er im Normalfall 5.000 Đồng nimmt. Bei der Touristenführerin hatte ich 10.000 Đồng gesehen. Ich griff in mein Portemonnaie und gab ihm 40.000 Đồng (1,60 €), worauf er meine Hand mit dem Geld wegschob und sagte Das ist viel zu viel!
Die wunderschöne Schreibschrift von Herrn Ngộ auf der Postkarte für meine Eltern. Greetings from Saigon. Dương Văn Ngộ. Public writer at the postoffice.
Ich zog das Geld erst einmal wieder zurück und sagte ihm wie bedeutungsvoll dieses Gespräch mit ihm für mich gewesen sei und das er in der gleichen Zeit auch hätte vier Postkarten schreiben können. Ich streckte meine Hand mit dem Geld und meine andere Hand den ersten Arm stützend wieder zu ihm aus. Er guckte mir in die Augen, nickte und nahm das Geld entgegen.Wir verabschiedeten uns und ich kümmerte mich um den Versand dieser tollen Postkarte, die zwischenzeitlich – nach elf Tagen Postweg – bei meinem Eltern angekommen ist.
Ich habe ein Zitat seiner Frau über ihn – diesen wirklich besonderen Menschen – gelesen, dass ich noch mit euch teilen möchte: Mein Mann ist nicht reich, er ist auch nicht besonders hübsch. Aber ich liebe ihn. Am Tag der Heirat hat er gesagt, wir werden uns niemals vor den Kindern streiten. Lass uns lieber Briefe schreiben. Und wenn der Ärger verflogen ist, dann verbrennen wir sie.
In dem Sinne bis zu meinem nächsten Post der Việt Nam-Serie...
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Über mich
Ich bin ein liebevoller Vater, Candourist, Stoiker, Agilist, Product Owner, Hauptmann der Reserve, Diplom-Kaufmann und ausgebilderter Verkehrspilot (ATPL-Credit).
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Xin chia buồn cùng gia đình. Và cầu mong linh hồn anh ấy được yên nghỉ.