Bonhoeffers Theorie der Dummheit

Donnerstag, 09. Februar 2023
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Lesedauer: 8 Minuten

Während einer Heereseinheitlichen Taktischen Weiterbildung (HTW) in Weiden in der Oberpfalz vor vielen Jahren besuchte ich mit unserem Hörsaal auch das Konzentrationslager Flossenbürg an der tschechischen Grenze.

Dort traf ich das erste Mal thematisch auf den in jenem Konzentrationslager hingerichteten Dietrich Bonhoeffer und seine Erkenntnisse. Anhand seines Beispiels wurde uns Offizieren im Rahmen der politischen Bildung abermals dargelegt, warum wir trotz unseres Eides, unser Vaterland tapfer zu verteidigen, nicht jeden Befehl auszuführen hätten. Uns wurde abermals dargelegt, dass Ungehorsam für uns als Soldaten der Bundeswehr in begründeten Fällen sogar unsere demokratische und rechtsstaatliche Pflicht sei.

Ungehorsam als Pflicht? Du bist mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Soldat und doch betrifft dich die Pflicht zum Ungehorsam als Zivilist und Arbeitnehmer genauso. Es gibt beispielsweise Unternehmen, die zur Wahrung des Unternehmensprestiges ihre Arbeitnehmer zu Rechtstreue bzw. Regelkonformität verpflichten. Was aber tun, wenn eine Führungskraft nun Dinge tut, die gegen Compliance und Ethik verstoßen? Was das mit Dietrich Bonhoeffer zu tun hat, was dieses Verhalten einer Führungskraft begründen kann und wie du in einer solchen Situation reagieren kannst, das möchte ich mit dir in diesem Post herausfinden.


In den letzten Monaten bin ich als Zivilist erstmals in eine Situation gekommen, die mich darüber nachdenken ließ, Ungehorsam walten zu lassen. Ich erinnerte mich in diesen dunklen Stunden meines Arbeitslebens an den besagten Besuch in Flossenbürg und an Dietrich Bonhoeffer. Wer war dieser Dietrich Bonhoeffer, was hatte ich im Zuge der politischen Bildung vor vielen Jahren von ihm gelernt und habe ich Ungehorsam walten lassen?

Dietrich Bonhoeffer, geboren im Jahre 1906, war ein deutscher, lutherischer Theologe und Pfarrer, der sich ab der Machtübernahme der NSDAP für die Schwachen stark machte und versuchte, Menschen zum Umdenken zu bewegen. Das sorgte letztlich dafür, dass er in Haft geriet und nur zwei Wochen vor der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg am 9. Mai 1945 dort von den Nazis hingerichtet wurde.

Zuvor hatte er in der Haft viel darüber nachgedacht, wie sich Deutschland, das Land der Dichter und Denker, in ein Land der Feiglinge, Gauner und Verbrecher verwandeln konnte. Dabei kam er letztlich zu dem Schluss, dass die Wurzel allen Übels nicht die Bosheit der Menschen war, sondern die Dummheit!

Er schrieb dazu im Jahre 1943 unter dem Titel Von der Dummheit folgendes:

Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch – und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.

Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anläßlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, daß bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern daß unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und daß dieser nun – mehr oder weniger unbewußt – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Mißbrauchs. Dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können.

Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen. In dieser Sachlage wird es übrigens auch begründet sein, daß wir uns unter solchen Umständen vergeblich darum bemühen zu wissen, was „das Volk“ eigentlich denkt, und warum diese Frage für den verantwortlich Denkenden und Handelnden zugleich so überflüssig ist – immer nur unter den gegebenen Umständen. Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.

Übrigens haben diese Gedanken über die Dummheit doch dies tröstliche für sich, daß sie ganz und gar nicht zulassen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen.



Wenn du diesen letzten Satz so ließt, dann wird dir eventuell auch schon klar, warum manche Führungskräfte so handeln, wie sie handeln. Sie haben lediglich eine institutionelle Macht aber keine ihnen verliehene, anerkannte und damit wahre Macht. Und mit Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. macht Bonhoeffer klar, dass solche Führungskräfte ohne dein Zutun und sei es nur Passivität, auch keine Macht haben!

Was Bonhoeffer in seinen Ausführungen dankenswerter Weise auch klärt, ist vor allem das definierte Verständnis des Wortes Dummheit. Umgangssprachlich verstehen wir Dummheit heute nämlich als eine Gewisse Art Unwissenheit. Eigentlich ist Dummheit aber viel schwerwiegender, denn es ist ein Mangel einer kognitiven Fähigkeit, der Fähigkeit Informationen effektiv und effizient aufzunehmen und zu verarbeiten! In ganz verheerenden Fällen ist Dummheit sogar eine Form der bewussten Ignoranz. Vielleicht passen Worte wie Einfalt oder Torheit heute besser?

Bonhoeffer gibt auch einen Ratschlag, wie man dem Phänomen entgegentreten kann. Er schreibt Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Eine Aussage, die mich zwar nicht zum Ausüben von Ungehorsam, aber zum umgehenden Handeln nach monatelanger Passivität gebracht hat.

Intuitiv versucht man vermittelnd, lösungsorientiert auf den / die Dummen einzugehen und gute Argumente wirken zu lassen. Wie Bonhoeffer aber schon damals schrieb, ist dies zum Scheitern verurteilt, weil die Dummen in absoluter Überzeugung ihrer Einzigartigkeit und Überlegenheit in ihrer eigenen Realität leben und nur eine Chance haben, ihre eigenen Defizite zu erkennen, wenn man sie alleine lässt.

Leider ist die Dummheit von Führungskräften oder Mitarbeitern heute nicht nur in einigen Firmen mit einer Mentalität aus dem letzten Jahrhundert ein zu viel Unzufriedenheit führendes Thema, sondern auch politisch ein absolut aktuelles Thema, dass die Gefahr birgt, selbst die Mutter aller Demokratien in die Autokratie schlittern zu lassen. Stichwort MAGA-Bewegung in den USA...

Mit weniger Ernst und deutlich satirischem Ansatz ins gleich Horn bläst auch eine Veröffentlichung von Carlo M. Cipolla. Die teile ich aber in einem weiteren Post mit dir.

Hast du in deinem Leben schon Fälle von Dummheit bei Führungskräften oder Kollegen erleben müssen? Welche Erfahrungen hast du damit gemacht und wie hast du die Situation gelöst? Schreib mir gerne, denn ich würde mich über Beiträge von dir und dein Feedback zu diesem Post sehr freuen.


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